Brasilien.
Die letzte Station auf meinem Trip. Und es ist schon jetzt fast ein bisschen wie Nachhausekommen. Denn in keinem anderen Land war ich in den letzten Jahren so oft und so lange. Mittlerweile hab ich hier Freunde, Portugiesisch ist meine Lieblingssprache und Rio mein Herz.
Ok, Recife allerdings weniger.
Da war ich schon mal, die Stadt am nordöstlichen Zipfel des Landes haute mich damals nicht grad um. Keine tolle Strandpromenade, kein Zuckerhut, kein Körperkult, mandioca, also Maniok, heisst hier nicht aipim, sondern macaxeira („Noch fein, dieses macaxeira, aber aipim find ich besser.“ – „Äähh, das ist dasselbe, Bitterbös.“ – „Ups. Aber mandioca könnt ich auch wieder mal... – „Du ISST das grade!“ – „Ok...“), Schwimmen kann man auch nicht, weil man sonst von einem tubarão, also Hai, gefressen wird (haha, aber nicht von so einem grossen wie vor Südafrika, ätsch!!), und ausserdem wurde ich in Recife das erste und bisher einzige Mal auf Reisen beklaut (iphone und Kamera, wollte dir auf diesem Weg nochmals Arschloch sagen, unbekannter Dieb!).
Ok, dafür ist der Carneval der Stadt super, kann ich bezeugen. Und das Flugi nach Fernando de Noronha, das Inselparadies schlechthin, geht auch von dort. Aber sonst? Nö.
Trotzdem verbringe ich also einen ganzen Monat in Recife, freiwillig sogar. Der Grund: ich will auf dieser Reise mal nicht nur faul am Strand liegen, Tiere kucken, fressen und Touri sein, ich will auch mal geben und mich mit den weniger schönen Seiten eines Landes beschäftigen.
In einem Kinderhilfsprojekt will ich mich engagieren, und eines gefunden, das mich auch lässt, habe ich nun halt mal in Recife.
Also.
Kinder sind jeweils das schwächste Glied in der Gesellschaft. Wehrlos und verwundbar, unschuldig an der Misère, in die sie hineingeboren wurden. Wenn man grundlegend etwas an einer Gesellschaft ändern will, dann muss man bei den Kindern ansetzen, denn sie sollen es mal besser machen als ihre Vorfahren. Und genau das macht das Hilfsprojekt: es hält Kinder, die in Armut und ohne Optionen aufwachsen müssen, von der Strasse, von der Kriminalität fern. Es bietet ihnen die Möglichkeit, sich zu entwickeln und ihre Fähigkeiten zu entdecken. Die Kinder können dort gratis Musikstunden nehmen, sich im Puppentheater besser ausdrücken lernen, sich beim Sport austoben, in Lesezirkeln über Literatur diskutieren oder gesund kochen. Es werden ihnen Regeln beigebracht, sie müssen putzen und aufräumen, dürfen nicht fluchen, nicht handgreiflich werden, müssen regelmässig zur Schule (aber die ist leider unter aller Sau, mit 10, 11 können diese Kids meist immer noch nicht lesen und schreiben, aber das interessiert den Staat offensichtlich nicht, wer in Brasilien eine gute Ausbildung will, soll halt hinblättern, pffff!). All das, damit sie nicht aus lauter Perspektivlosigkeit mit Drogen dealen oder sich gegenseitig erschiessen, sondern merken: mit Willen und Disziplin kann ich mir was Gutes aufbauen. Warum nicht Köchin werden? Oder Lehrer? Ich schaff’s, wenn ich will, mein Leben kann schöner sein als das meiner Mutter, die arbeitslos mit 7 Kindern in der Gosse sitzt, während mein Vater im Gefängnis vergammelt! Ausserdem, und das ist genauso wichtig: die Kinder können im Projekt regelmässig essen und duschen – das ist bei ihnen zu Hause oft nicht möglich. Schon gar nicht, seit Brasilien in der Rezession ist.
Ihr Zuhause. Ja, das ist so eine Sache.
Ich gehe mit ein paar Sozialarbeitern mit, die Familie eines Mädchens besuchen. Es ist nicht meine erste Favela, aber mit Abstand die übelste. Das ist nicht mal eine Hütte, das ist eine Ruine! Null Infrastruktur, nicht mal Wasser, kaum Möbel, rundherum nur Abfall und Trümmer, und kein Schutz gegen diese unsägliche tropische Hitze! Ich weiss nicht, wie die Kleine mit ihren 10 Geschwistern dort drin Platz hat, wo sie alle schlafen, aufs WC gehen... Und ich weiss nicht, wie man in so einem Dreck gesund bleiben kann, aber diese Kinder sind tatsächlich alle so fit und munter, aufgeweckt und fröhlich, ich staune immer wieder.
Nun, einer der Sozialarbeiter bricht in Tränen aus, als er diese Zustände sieht....
Ich besuche aber nicht nur Favelas, ich rühre auch schon mal in der Küche des Hilfswerks in riesigen Töpfen, schöpfe Essen aus, mehrere Dutzend Mal pro Tag, bis mir fast der Arm abfällt und befasse mich vor allem mit PR. Zusammen mit einem Filmer produziere ich Videos für den hauseigenen youtube-Kanal. Meist muss ich grad selber vor die Kamera, denn so viele gringos gibt’s nicht in Recife, und kaum wer spricht Fremdsprachen. Ich als Exotin bin also gutes PR-Material oder „muito chique“, wie es der Chef des Projekts ausdrückt. Wenn er mich nicht gerade liebevoll „rothaarige Crackhure“ nennt („a ruivinha do crack“, auf Portugiesisch klingt das echt sooo viel romantischer!). Denn etwas haben die Leute im Hilfsprojekt und ich, die gringa, gemeinsam: nicht alle Tassen im Schrank.
Nur, weil man den ganzen Tag traurige Schicksale um sich herum hat oder selber eines ist, heisst das in Brasilien noch lange nicht, dass man das Leben nicht geniessen kann – und irgendwie liebe ich genau das an diesem Land! So gibt es den ganzen Tag viel zu lachen, („Ey, Cesar, lagst du am Wochenende wieder in deinem Tanga am Strand?“ – „Jaja, klar, du bist gläubige Evangelikale! Am Morgen Kirche, am Abend Koks!“ – „Bitterbös, Touris hier schleppen normalerweise gut gebaute Schwarze ab und saufen Caipirinha, wieso rührst du in einer Suppe für Arme??“)
Und schuld am Stromausfall sind Dilma und Lula und die Korruption.
Einmal sind wir zu dritt im Auto unterwegs. Die Strasse, wo wir eigentlich durchmüssen, ist gesperrt, wegen einer Anti- oder Pro-Lula-Demo, ich habe den Überblick verloren. Meine beiden Begleiter haben keine Lust, das ganze Quartier zu umfahren. Also winken sie kurzerhand einen Polizisten von der Absperrung heran und erklären ihm: die Gringa ist gaaaaaannnz fürchterlich krank, schlimme Schmerzen, wir müssen dringend da durch ins Spital, die macht’ s nicht mehr lange. Und dann schauen mich alle plötzlich ganz gespannt an, und ich so geistesgegenwärtig und vier Jahre Schauspielschule sei Dank: „Au, aaaaaauuuuu, aaaaaaaaaahhh...“ und Augenverdreh und Stossatmung und Bauchreib, das ganze Programm halt.
Nun, sie lassen uns durch.
Und so hab ich Recife doch noch liebgewonnen. Gar nicht so schlimm hier, ganz gut sogar! Ok, das System mit den Bussen kapier ich immer noch nicht so ganz. Einmal merke ich erst an der Endstation in einer sehr zwielichtigen Favela, dass mich der Bus nicht an den Strand bringen wird. Und er fährt auch nicht mehr zurück, also schon, aber in zwei Stunden erst. Ich also in den Supermarkt gleich neben der Station, und der Typ an der Kasse kriegt sofort die Krise, als er mich sieht. Was ich als Ausländerin denn hier verloren hätte, ich solle mal schön im Laden bleiben, da draussen sei es für mich gefährlich, er werde mir einen Transport organisieren. Um die Wartezeit zu überbrücken, gibt er mir Guetzli und Wasser, und schliesslich werde ich auf einem Motorrad zum nächsten Taxisammelpunkt kutschiert.
Tipptopp umsorgt in der Gefahrenzone, welcome to Brasil! Wären nicht an sämtlichen Kassen dieses Landes die Warteschlangen so unsäglich lang und erhielten ALLE Kinder eine vernünftige Ausbildung, ich hätte hier nichts auszusetzen.
Aber jetzt sitz ich im Flugzeug nach Zürich, das ganze Handgepäck voller bolo de rolo als Mitbringsel, mein Körper übersät mit ungefähr 50 Mückenstichen (die Arschlöcher interessiert mein Spray überhaupt nicht!!!) und hab grauenhaft saudades. Nach macaxeira. Nach den gefühlten zwei Dutzend Kindern, die sich jeden Morgen an mich dranhängen, sobald ich das Gebäude des Hilfsprojektes betrete („Tia, tia, sag meinen Namen in deiner Sprache! Victoria!“ – „Äh, Victoria.“ – „Und Andriely?“ – „Andriely.“ – „Edmilson!“ – „Edmilson.“) Nach den tief philosophischen Gesprächen mit meinen beiden Mitbewohnerinnen in der WG, des nachts im Innenhof („Wenn mir einer was Schlechtes tut, vergesse ich sofort, wer er ist. Mein Gehirn radiert dieses Gesicht einfach aus.“ – die Glückliche, ICH möchte dem jeweils eins in die Fresse hauen!). Nach der jungen Katze des Hauses, die mir jedes Mal die Wäsche vom Ständer reisst, wenn ich sie zum Trocknen aufgehängt habe – ich bemerke es jeweils spätestens dann, wenn sie mit meinem BH auf dem Kopf angerannt kommt.
Aber ja: alles hat ein Ende, die einzige untrügliche Wahrheit dieses Lebens.
Die Bilanz nach drei Monaten Reisen:
Ein Gottikind mehr.
Das Budget nur um 1000 Franken überzogen.
Nie beklaut worden, aber teures Freitags-Täschli fürs iphone verloren, plus ein paar Jeansshorts.
Es geschafft, mit ein paar falschen Handgriffen sämtliche Musikdateien auf all meinen elektronischen Geräten zu löschen.
Zweimal Grippe, einmal Dengue, ein erdbeergrosses, ÄUSSERST ENTSTELLENDES Gerstenkorn, wohl bald Diabetes.
Und wie immer nach Reisen das Gefühl, ich müsste mein altes Leben zu Hause komplett über den Haufen werfen.
Aber wahrscheinlich lieg ich eh erstmal wieder mit Dengue flach.
Oder Zika.
Chikungunha.
Whatever.
Züri, dänn halt. A ruivinha do crack ta chegando!