Donnerstag, 10. September 2020

126 Das andere Virus

So, Leute, jetzt lasst uns mal über ein anderes Virus sprechen, nicht immer über dieses Corona! Ich kenne da nämlich eines, das wahrscheinlich noch viel verbreiteter ist als Covid-19:

Es handelt sich um ein Angst-Virus. Es löst eine abstruse Panik vor Nähe und Bindung aus, die sich so mit Anfang, Mitte 30 langsam anschleicht und dann mit steigendem Alter immer grösser wird.
Vielleicht ist man irgendwann auch wieder immun, aber mit Anfang 40 jedenfalls noch nicht. Und ich kann ja nur vor meinem Alter sprechen.
 
Wie schlimm kann es denn sein?
Und ich kann auch sagen, dass ICH nicht wirklich an dieser Angst leide, sprich, offenbar noch nicht infiziert bin. Aber sehr viele Leute, die mir über den Weg laufen, eben schon. Und das hat nunmal auch grosse Auswirkungen auf mein Leben, denn es macht es verdammt schwierig, soziale Beziehungen aufzubauen. Kaum ist jemand da - ist er auch schon wieder weg. Aus unerfindlichen Gründen. Oft auch, ohne das vorher anzukündigen. Einfach aus einer diffusen Angst heraus, es könnte mit mir in der Nähe wohl etwas ganz Schreckliches passieren.

Oder wie genau soll ich dieses Verhalten sonst deuten?
Es muss ja wirklich grauenhaft sein, mich im Leben zu haben, mit mir Zeit zu verbringen, scheint eine einzige Tortur zu sein. 
Das jedenfalls wäre für mich der allereinzige Grund, um mit jemandem den Kontakt abzubrechen, den oder die ich noch kaum kenne. 
Das mag ja schon mal passieren, dass man jemanden trifft, und es geigt überhaupt nicht. Vielleicht findet man sich sogar ausgesprochen scheisse. Ja, dann verabschiedet man sich halt (oder auch nicht) und sieht sich nicht wieder. Aber wenn man zusammen eigentlich eine wirklich coole Zeit hat und die andere Person das genau so sieht (sagt sie jedenfalls), dann gibt es doch rein rational betrachtet keinen Anlass, diese coole Zeit nicht auch künftig miteinander zu verbringen, sondern sie von heute auf morgen einfach abzubrechen. Auf Nimmerwiedersehen.
 
 
Lieber Ghosten oder Lügen?
Passiert aber, und nicht wenig. Und nicht nur mir, wenn ich mich so umhöre. Und auch nicht nur Weibchen, sondern auch Männchen und wahrscheinlich auch Intersexuellen, etc. 
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, sagt die Expertenzunft, die sich um solche sozialen Phänomene kümmert. Weil unsere Welt jetzt immer digitaler werde. Leuchtet ja auch irgendwie ein, ich meine, wenn einem der Freund nicht mehr passt, kann man ja im Internet einfach einen neuen suchen. Einen besseren. Und danach noch einen besseren. 
Die Freundinnen nerven? Dann pflegt man seine Kontakte halt nur noch virtuell, dafür gibt's ja social media und Computer Games. Und denn Freundinnen aus Fleisch und Blut muss ich auch nicht mehr erst ausdrücklich die Freundschaft kündigen - ich ghoste sie einfach: Messages nicht mehr beantworten, Anrufe nicht mehr annehmen, so tun, als kenne ich sie nicht.
Wer noch ein Fünkchen Respekt und Anstand besitzt und dem das Ghosten deshalb ein schlechtes Gewissen bereitet, der kann auch einfach lügen. 
"Ich würde dich eigentlich voll gerne wiedersehen, aber ich bin gerade auf Geschäftsreise in Schweden (geschrieben vom heimischen Sofa aus)".
"Ich muss jetzt ganz dringend lernen, ich melde mich nach der Prüfung! (ward nie mehr gesehen)".
Das klingt nach Sätzen aus sehr schlechten Groschenromanen, die man am Kiosk kaufen kann, aber sicher nicht in der Buchhandlung. Ist aber leider alles schon genau so passiert.
Zum Beispiel mir.

Fassen wir also zusammen: Kontakt abbrechen, Bezugspersonen, Liebschaften und Freundeskreise wechseln, ist heute dank Apps, Smartphones und Co. viel einfacher als früher, als man noch Briefe schreiben, in Vereine gehen oder tatsächlich mit den Leuten face to face reden musste.
Eine Psychiaterin hat es mir mal sehr gut erklärt: Dank des Handys lernen wir nicht mehr, Frustration auszuhalten und damit umzugehen. Wenn uns etwas frustet, dann zücken wir einfach den kleinen Computer und hauen unsere negativen Gefühle raus. Indem wir jemanden über Whatsapp zusammenscheissen oder ihn einfach aus unserer Kontaktliste löschen, indem wir im Netz nach neuem Glück suchen. Das bedeutet, dass wir nichts mehr eine Chance geben, das uns nicht absolut perfekt erscheint.
 
Mit dem Resultat, dass wir uns in der REALEN Welt immer weniger zurecht finden.

Das Leben ist halt Risiko!
Natürlich kann ich nicht für alle Menschen sprechen, die sich auf dem Globus tummeln, nein. Ich habe mir auch schon überlegt, ob diese Bindungsangst vielleicht etwas ethnisch-kulturelles ist. Wäre noch interessant herauszufinden, ob die Menschen etwa in Afrika genau so beziehungsscheu sind wie in Mitteleuropa. Allerdings haben Bekannte in Kolumbien, Thailand oder Österreich ähnliche Dinge erlebt wie ich, was in mir die Befürchtung weckt, dass das Angst-Virus ähnlich wie Covid-19 orts- und klimaunabhängig ist.... 
Sich auf andere Menschen einzulassen, auch wenn man die eigentlich mag, scheint für viele zu einem unüberwindbaren Hindernis geworden zu sein. 
Und ich rede jetzt nicht davon, eine Ehe einzugehen. Dass man da vielleicht kalte Füsse kriegt, weil man lebenslange Treue und Liebe schwören muss, kann ich ja noch irgendwie nachvollziehen. Ansonsten denke ich da eher pragmatisch: Jede Art von Bindung, sei es eine Partnerschaft, eine Freundschaft oder eine Geschäftsbeziehung, kann man ja auch wieder auflösen, wenn es wirklich nicht mehr passt. Das mag mit viel Schmerzen und Mühen verbunden sein, aber aus Angst vor diesen sich einfach gar nicht mehr auf andere Menschen einzulassen, finde ich jetzt auch nicht die Lösung. Und ehrlich gesagt auch furchtbar langweilig. Und feige. Sehr feige.
Das Leben ist Risiko, sonst kann ich mich ja gleich unter den Zug legen.  
 
Ein bisschen Wertschätzung wäre schön
Vor was hat man denn genau Angst, wenn man an diesem Virus leidet? 
Vor Verpflichtung? Wie gesagt, nichts ist für immer. 
Vor Einschränkung? Ja gut, wenn man sich eine Woche nach Kennenlernen schon eingeschränkt fühlt, dann stimmt wirklich etwas nicht. Das bezweifle ich aber. 
Vor Enttäuschung? Haha!
Wenn man nicht mehr 20 ist, ist der Erfahrungs-Rucksack auf dem eigenen Rücken halt schon prall voll gefüllt. Und glaubt mir: Jupp, ich habe auch schon so einiges, wirklich EXTREM ABGEFUCKTES erlebt, was mir Mitmenschen angetan haben. Auf der anderen Seite war ich zu gewissen Personen sicher auch ein richtig mieses Arschloch. 
Dass wir alle Vergangenes nicht noch einmal durchmachen wollen, ist mir auch klar. Gewisse Dinge gilt es zu vermeiden, wenn man sie früh genug wahrnimmt. 
Aber wenn doch eigentlich alles gut und friedlich ist, dann gibt es keinen Grund, das einfach so in den Sand zu setzen.
Meine Meinung. Hat für mich auch mit Wertschätzung zu tun. Und Dankbarkeit für alles Gute, was einem passiert.
 
Vielleicht kommt er ja bald, der Impfstoff gegen Covid-19. 
Ob Putin allerdings auch etwas gegen dieses andere Virus findet, bezweifle ich. Obwohl er das sicher behaupten würde. Trump auch. 
Also werden wir noch viel länger einsam bleiben, als dass wir Masken tragen müssen.