Freitag, 20. November 2020

129 Mein neues Ich

Neulich im völlig überfüllten Tram zur Stosszeit am Morgen: 
Ich muss stehen, wie viele andere auch. Nicht so corona-konform, aber naja. Eine Frau neben mir hat auf dem Sitz ihr gegenüber ihre Tasche platziert. Eine andere Frau fragt sie höflich, ob sie sich da hinsetzen könne. 
Die Frau mit der Tasche: "Nö." Die andere: "Aber Sie, das cha doch nöd sii, das isch ja nur e Täsche!" Die Frau: "Nei, ich wott nöd." Die andere wieder: "Aso, Entschuldigung, das gaht doch nöd, chan ich jetzt bitte da ANESITZE??"
Die Frau packt ihre Tasche und verschwindet mit ihr, sichtlich erregt, in den hinteren Teil des Trams, wo sie demonstrativ stehen bleibt, bis sie aussteigen muss, ab und zu ein paar giftige Blicke in unsere Richtung werfend. Die andere Frau setzt sich unterdessen kopfschüttelnd auf den Taschenplatz und schaut mich dabei hilfesuchend an, weil ich grad daneben stehe. Ich schüttle solidarisch meinen Kopf mit und packe die Gelegenheit beim Schopf, mich auf den frei gewordenen Platz der Taschenfrau zu setzen.

Streiten mit Blümchenmaske 
Die ganze Szene war irgendwie auch noch melodramatischer und absurder, weil die Taschenfrau so eine Blümchen-Gesichtsmaske trug. Sie sah fast nett und herzig aus, war aber ein giftiges Aas. Überhaupt gaben die Schutzmasken dieser ganzen "Diskussion" einen komödiantischen Touch. Man wünscht sich die Pest an den Hals, aber so ganz ohne Mimik. Da kann man sich doch gegenseitig nicht wirklich ernst nehmen, oder?
Und ich weiss auch nicht, was das Problem der Taschenfrau war: Hatte Sie Angst, sich mit Covid anzustecken, wenn ihr jemand gegenübersitzt, trotz Maske? Oder ist sie einfach eine dieser TASCHEN-NAZIS, über die ich mich hier schon vor mehr als 6 Jahren das erste Mal aufgeregt habe??

So oder so: Diese Zeiten gerade sind einfach nur crazy. Das Virus holt das Schrecklichste aus uns raus und macht unsere dunklen Seiten noch dunkler. Wer vorher schon ein Arschloch war, ist jetzt ein noch grösseres. Wer vorher schon vor allem Schiss hatte, hat es jetzt noch mehr. Und die Nerven liegen blank. 


Die Sache mit dem Blumentopf um Mitternacht
Ich bin da keine Ausnahme, Asche auf mein Haupt. Erst letzte Woche hatte ich meinen allerersten Nachbarschaftsstreit. Es ging - ui, wie schlimm! - um einen kaputten Blumentopf im Garten. 
Woher kommt er, wer macht ihn weg, bringt er vielleicht unsere Kinder um?? 
Ich möchte euch die Details ersparen, aber jedenfalls fand ich mich um Mitternacht plötzlich vor der Tür einer Nachbarsfamilie wieder, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, aber wir schrien uns einfach mal so an, bis mir die Tür unsanft vor der Nase zugeschlagen wurde. (Anmerkung: Am nächsten Tag entschuldigten wir uns bei einander und schämten uns alle kräftig für unser unreifes Verhalten, das ein Blumentopf hervorgerufen hatte, der keinem von uns gehörte, aber egal - jetzt sind wir innerhalb von 24 Stunden von Fremden zu besten Freunden geworden, immerhin ein Happy End!). 
Ach, und ein Mann hat sich über meine Vagina beschwert. Auch hier möchte ich nicht ins Detail gehen, aber sowas kann wirklich nur Covid verursachen - oder irre ich mich? 

Nein, unmöglich, meine Vagina ist super, da bin ich überzeugt. Von 35043 Männern bestätigt. HAHA!!!

Apropos Männer und Frauen: Auch sehr interessant finde ich, dass sich gerade sehr viele in meinem Umfeld über ihre Beziehungen beschweren. The significant other nervt, es ist langweilig, es gibt keinen Sex, Homeoffice zu zweit kommt der Todesstrafe gleich - auch hier möchte ich wetten: Das Virus hat ganze Arbeit geleistet. Auch wenn die Ehe vorher schon im Arsch war, dank Corona lässt sich das jetzt halt nicht mehr so leicht verdrängen.

Selbstfindung am Strand ist teuer
Also, kurz zusammengefasst: Überall schlechte Stimmung. Von dem her habe ich mich jetzt entschieden: Es ist glaube ich besser, mich mal eine Weile auf mich selbst zu konzentrieren. Mich selber zu verwöhnen, mir selber etwas wert zu sein, herauszufinden, was ich will und wer ich bin, meine Muster zu durchbrechen, etc. Das sagen sie jedenfalls in diesen Psychologie-Podcasts immer, die ich zur Zeit ständig höre. 
Also habe ich unbezahlten Urlaub eingegeben, ich denke, der hilft mir am meisten, mein neues Ich zu finden. So am Strand mit einem Drink in der Hand. Allerdings kann ich mir den wahrscheinlich gar nicht mehr leisten, weil ich auch grad noch sonst seeeeehr viel Geld für mich und meine neue Selfcare ausgegeben habe (warum sind neue Brüste aber auch so teuer? SCHHEEEERRRZZZ!!! Ich richte mir gerade ein Büro ein. Und meine Brüste sind wie meine Vagina: Unschlagbar!!). 
Mann, für so Selbstfindung muss man echt tief in die Tasche greifen, vor allem, wenn man wie ich nicht so viel mit Meditation oder Fasten oder Schweige-Retreats anfangen kann.

Mist, und "man" darf heutzutage ja auch nicht mehr benützt werden. Aber "frau" ist ja genau so sexistisch. Was dann, Passivsätze? Finde ich stilistisch oft unschön. 

Lassen wir das, zurück zum Urlaub. Naja, ok, ob und wann und wohin ich überhaupt wegfahren kann, ist ja auch noch offen, aber hey! Was wären wir ohne Hoffnung und Vorfreude?

Von dem her: Fick dich, du verdammtes 2020!! Zum Glück bist du ja bald zu Ende. Und dann hab ich mich hoffentlich endlich gefunden.

Bleibt gesund! 
(Auch so abgedroschen, aber "Bleibt mental stabil!" finde ich ein bisschen anmassend)