Ich habe den Ring meiner Mutter verloren.
Kurz und sec, so steige ich in diesen Post ein.
Weil es mich so richtig anpisst. Und mir die Ostern verdorben hat.
Ohne Ringe ist wie ohne Kleider
Der Reihe nach: Es ist Ostersamstag, und ich muss - wie die natürlich die gesamte Bevölkerung der Schweiz - einen Grosseinkauf machen, damit ich an den restlichen Feiertagen nicht verhungere.
Dabei bin ich schlau: Die Coops und Migros in Zürich Downtown werden wahrscheinlich hoffnunglos überlaufen sein, denke ich mir. Also lohnt es sich sicher, etwas weiter weg zu fahren.
Die Wahl fällt auf den Riesen-Coop in Dietlikon.
Der ist tatsächlich gar nicht mal so voll. Oder einfach so gross, dass sich die Masse gut verteilen kann. I chose wisely.
Ich fülle also meinen Korb bis obenhin und schleppe mir einen ab.
Dann ab nach Hause. Aufs WC und Hände waschen - ja, und da fällt es mir auf: Wo verdammt nochmal ist mein Ring?
Ich trage immer zwei Ringe, an jeder Hand einer. Das ist so ein Tick von mir. Mit nur einem fühle ich mich blutt. Mit gar keinem füdliblutt.
Ohne Ringe an den Händen kann ich nicht raus. Übrigens auch nicht ohne Ohrringe. Kaum zu Hause allerdings, muss ich sämtlich Ringe, die Armbanduhr und etwaige Halsketten (die ich aber nicht jeden Tag trage) sofort abnehmen, denn dort stören sie mich. Sämtliche anderen Piercings und meine Armbänder bleiben aber 365 Tage im Jahr 24 Stunden lang an meinem Körper.
Dies als kleines, weirdes Supplement aus meinem Leben.
Zwischen die Früchte gefallen? Unters Kühlregal gerutscht?
Aber bleiben wir beim Thema: Jetzt also ist nur noch der Ring an der linken Hand da. Der andere: Weg.
Natürlich suche ich erstmal die Wohnung ab. Und meinen Rucksack, denn tatsächlich ist es schon ein paar Mal vorgekommen, dass mir beim Wühlen im Rucksack meine Ringe von den Fingern gerutscht sind, weil sie mir ein bisschen zu gross sind. Aber eigentlich merke ich das immer. Und finde die Ringe deshalb auch gleich wieder.
Dieses Mal ist es anders. Ich habe keine Ahnung, wo und wann mir dieser Ring abhanden gekommen ist.
Aber klar, ich vermute das Schlimmste: Im Megalomania-Coop. Wahrscheinlich während der Schlepperei, während dieser ich den fast durchbrechenden Korb mal rechts, mal links tragen musste. Vielleicht ist mir der Ring also irgendwo zwischen den Regalen unbemerkt runtergefallen. Oder zwischen die Papayas, als ich nach der reifsten wühlte. Oder er glitt mir vom Finger und rutschte unters Kühlregal, als ich mich nicht zwischen dem Nusskäse und den Têtes des moines entscheiden konnte (und am Ende beide nahm).
Jetzt werde ich bestraft
Ich habe den Coop angerufen. Natürlich haben sie nichts gefunden. Wer findet einen winzigen Ring in einem riesigen Laden? Das weiss doch jede und jeder, die schon mal so ein Schmuckstück fallengelassen hat: Das springt in alle Richtungen, und ziemlich bald ist es aus den Augen verloren und man/frau muss den gesamten Raum auf den Kopf stellen, um es wiederzufinden.
Und selbst, wenn jemand den Ring entdecken würde im Coop: Wer würde sich die Mühe machen, ihn beim Kundendienst abzugeben? Er ist aus Gold, er hat einen gewissen Wert. Ich kann es nicht mal verdenken.
Ja, der Ring hat meiner Mutter gehört. Und vielleicht sogar schon meiner Grossmutter. Ich bin mir nicht sicher, aber er ist mir in meinem Leben immer wieder begegnet an Händen meiner weiblichen Verwandten. Das macht es noch schlimmer: Offenbar war vor mir nie jemand dumm genug, diesen Ring zu verlieren, aber ausgerechnet MIR muss es passieren!! Ich habe sozusagen die Kette unterbrochen, die Erbschaftskette dieses Rings... Ich bin ja nicht wirklich abergläubisch, aber ich habe schon ein bisschen Angst, dass ich mit dieser Aktion das Unglück heraufbeschworen habe. Das ich jetzt bestraft werde für meine Unvorsichtigkeit (ist das überhaupt ein Wort?). Sieben Jahre schlechten Sex oder so.
Die Sache mit dem emotionalen Wert
Ich habe noch mehr Schmuckstücke meiner Mutter übernommen nach ihrem Tod. Aber der verlorene Ring war mir der liebste. Er war so speziell, er erinnerte mich ein bisschen an einen Fliegenpilz, rot mit weissen und goldenen Tupfern - und eben, ich verbinde angenehme Erinnerungen mit ihm.
Es ist schon interessant. Letztlich ist es nur ein Ring. Aber weil ich weiss, dass ihn Menschen getragen haben, die mir viel bedeuten, hat er für mich einen extrem hohen emotionalen Wert.
Unweigerlich zerbreche ich mir jetzt den Kopf darüber, was ich eigentlich sonst noch Materielles besitze von meinen verstorbenen Verwandten.
Eigentlich nicht so viel. Eben, Schmuck, ein paar Kleider, Fotos. Es waren schwierige Entscheidungen damals, denn ich konnte ja nicht ihre ganzen Wohnungen übernehmen. Oder jeglichen Krimskrams, den ich dann einfach nur in den Keller gesteckt hätte. Der mir nur im Weg gestanden wäre. Für den ich schlicht und einfach keine Verwendung gehabt hätte. Emotionaler Wert hin oder her.
Aber hätte ich trotzdem viel mehr behalten sollen, einfach nur, weil es Menschen gehörte, die wichtig für mich sind? Hätte ich es halt ab und zu angeschaut und gedacht: Ah ja, genau, die alte Kommode, 40 Jahre stand sie bei Mami und Papi, bei mir passt sie ja null rein, aber naja, kann ich doch nicht weggeben einfach? Genau so wie das hässliche Silberbesteck. Oder die selbstgenähten Vorhänge.
Brauchen wir Dinge fürs Erinnern?
Doch, ich konnte. Ich habe selbst mehr als genug Möbel und Besteck. Und ich HASSE Vorhänge. Ausserdem wären sie für meine Fenster eh zu kurz gewesen.
Aber manchmal beschleicht mich das schlechte Gewissen. Dann schreit mir eine Stimme so ins innere Ohr: "Du respektlose, unsentimentale Bitch! Du schmeisst einfach Sachen von deinen Liebsten weg, du interessierst dich gar nicht für deine Vergangenheit, du willst sie einfach ausradieren, vergessen, so tun, als wären sie gar nie real gewesen, SCHÄM DICH!!"
Ja, tatsächlich, solche Gedanken habe ich manchmal. Und ich frage mich: Wieviele Andenken braucht ein Mensch, um sich an einen anderen Menschen zu erinnern? Um Trost zu finden, wenn jemand nicht mehr da ist? Sind die schönsten, lebendigsten und wichtigsten Erinnerungen nicht eigentlich im Kopf, im Gefühl?
Wenn morgen der beste Freund, die Partnerin, das Kind stirbt - welche Dinge würden wir von ihm behalten wollen? Ist es ein bestimmtes Kleidungsstück? Das Musikinstrument, dass er gespielt hat? Das Velo, das es jeden Tag gefahren ist?
Oder eben ein Ring, den sie öfters am Finger trug?
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Meine Erinnerungen bleiben dieselben, auch ohne Ring. Aber dieser Ring war einmalig. Ich kann mir nicht einfach einen neuen kaufen. Das ist nicht wie der Lieblingspulli, den man schnell ersetzt, wenn der alte ein Loch hat oder in der Waschmaschine eingegangen ist.
Dieser verlorene Ring ist ein Riesenverlust. Und ein Zeichen mehr dafür, dass Tote halt nicht mehr zurückkehren. Weg ist weg.
Es bleiben nur die Erinnerungen. Und die sind halt manchmal verbunden mit Velos, Pullis oder Ringen.
Weg ist weg? Vielleicht nicht in diesem Fall. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Deshalb an alle da draussen: Ein Ring aus Gold, rot mit weiss - das ist meiner. Ich nehme ihn mit Dank zurück.
Und jetzt abonniert den Podcast endlich, Herrgott nomal!!
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