Dienstag, 23. März 2021

135 Mein Wissenschafts-Trauma

Mein Gspusi ist Latino, und er findet, ich sei jetzt nicht so voll typisch schweizerisch. Hat er wahrscheinlich auch recht, ich erfülle nicht alle Klischees: Ich komme dauernd zu spät, ich hasse Wandern und Berge, habe nie ein Taschenmesser im Sack und spreche nicht langsam.

Ok, ich LIIIEEEBEEE Käse und Schoggi, aber hey, wer nicht??

Aber etwas an mir ist schon sehr eidgenössisch: Die Jagd nach den Diplomen. Schweizerinnen und Schweizer müssen doch für alles ein Diplom, ein Zertifikat, ein Lizentiat, einen Master, Bachelor, MBA oder einfach sonst irgendeinen Zettel haben, der aussagt, dass sie etwas besonders gut können. Weil, sonst glaubt’s ja niemand. 
„Soso, you speak English? Cha ja jede säge! Dänn zeig halt mal dis Proficiency!“
 
Je mehr Papier, desto besser 
Ganz wichtig ist diese Diplomflut bei Bewerbungen. 
Du  bist nicht CEO, weil du seit 15 Jahren ein Unternehmen leitest. Nein, du bist CEO, weil du sieben CAS in Leadership und Management absolviert hast! 
Für das Schalten von Online-Werbung hast du ein Fernstudium in Schottland absolviert. Jetzt bist du Social Media-Expertin – und nicht, weil du jeden Tag 5 Stunden auf Instagram verbringst. 
Du kannst das 10-Fingersystem am Compi? Aber auch nur, weil das der Fackel von der Migros Klubschule bestätigt!

Je höher das Diplom, je bedeutender das Logo drauf und je mehr davon, desto eher und besser der Job. Ok, vielleicht nicht immer, aber doch schon häufig.

Das heisst also: Alle paar Jahre muss Mann, Frau und alles andere in der Schweiz sich wieder überlegen, ob denn nicht langsam wieder mal eine Weiterbildung ansteht. Macht sich auch gut vor dem Arbeitgebenden. So gut, dass er oft noch einen Teil der Kosten übernimmt. Oder sogar gleich alles selber bezahlt.

Schreiben ist nicht gleich Schreiben 
Und so ging es mir kürzlich wieder (also, nicht so, dass mein Arbeitgeber alles bezahlt, leider, aber dass ich vor der Frage der Weiterbildung stand). Was zur Folge hat: Ich habe kürzlich einen CAS begonnen. Meinen zweiten in diesem Leben. Damit bin ich unter meinen Mitstudierenden aber eine Seltenheit, für viele von Ihnen ist es schon der fünfte oder sie befinden sich gerade in ihrer dritten Masterausbildung oder ich weiss nicht was. 
 
Ich lerne ja auch sehr gerne dazu. Ich tausche mich gerne aus, diskutiere gerne, setze Anregungen und Ideen um. 
 
Aber genau damit hat es sich. Weil, was ich gar nicht gerne mache, ist: Projektarbeiten schreiben.

Und natürlich muss man genau das IMMER tun, wenn man sich als Akademikerin fortbildet und dann so ein Wertpapier haben will: Projektarbeiten. Diplomarbeiten. Zertifikatsarbeiten. Hauptsache schön wissenschaftlich alles. Die Herkunft jedes Satzes nachgewiesen.

Ich glaube, wer von euch meinen Blog liest und hört, der versteht, dass mir diese Art zu schreiben nicht gerade liegt.

Sprache ist etwas, das ungefiltert aus mir rausfliessen muss – egal, ob jetzt jemand diesen Gedanken schon mal vor mir hatte oder nicht! Keine Regeln, keine starren Korsette, keine Formatvorgaben, einfach FREI von der Leber!

Und deshalb mag es euch auch nicht verwundern, habe ich ein Trauma von wissenschaftlichen Arbeiten. Denn, wie schon erwähnt, ich habe tatsächlich eine Universität besucht vor 4304 Jahren, und dort durfte ich das zur Genüge machen. AND I WAS NOT AMUSED!!! 

 


Kein Nobelpreis für mich 
Das fängt ja schon an mit der Fragestellung, die man/frau/* in diesen Werken ja bearbeiten soll. Ja, was soll ich mich denn fragen, bitte?? Fragen, die MICH interessieren, sind nicht wissenschaftlich belegbar: Was ist der Sinn des Lebens? Warum sind gewisse Menschen Arschlöcher? Warum bin ich manchmal selber eins? Warum sind Radlerhosen wieder in?

Und dann braucht es natürlich Theorien und Methoden, anhand derer die Fragestellung untersucht werden soll. Natürlich keine eigenen, aus gescheiten Büchern sollen sie kommen. Das bedeutet: Literaturrecherche! EKELHAFT!!!!!

Gut, immerhin geht heutzutage alles online. Ich erinnere mich mit blankem Horror an meine unzähligen Gänge in die Bibliothek – nur um festzustellen, dass das benötigte Buch schon vergeben ist und ich die dritte auf der Warteliste bin. Und an die Gebühren, die ich bezahlen musste, wenn ich die Bücher (in fünf Migrosäcken!!) nicht rechtzeitig zurückbrachte!

Irgendwann aber, mit ein bisschen Glück, kommt man dann an einen Punkt, an dem man glaubt: So, jetzt verhebed’s! Das ist eine bahnbrechende neue Erkenntnis in der Forschung, die gesamte Wissenschaft hat nur auf meine Resultate gewartet! Sogar die Zitierregeln sind eingehalten und brav eine Danksagung eingefügt! Der Anhang ist länger als die eigentliche Arbeit – aber das zeugt ja von Einsatz! Wunderschön, ein MEISTERWERK! Der Nobelpreis ist mir sicher!!

Und dann findet es der oder die Prof einfach nur scheisse.

Jupp, auch das ist mir zu Genüge passiert. 

Schoggi gegen Masochismus   
Deshalb habe ich am Abend vor Beginn meines neuen CAS einfach mal kurz vor meinem neuen Mac geheult.

Wieso tue ich mir das jetzt schon wieder an?? Bin ich Masochistin, mag ich wirklich so gerne Schmerzen??

Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, und wenn ich kurz wegdöste, hatte ich Alpträume aus meiner Studentenzeit. Damals, beim Abschluss, wurden wir vier Stunden lang in einen Hörsaal gesperrt und bekamen ein Thema, über das wir schreiben mussten. Meins war „Die Liebe in Horvaths Werken“ oder irgend so was, ich erinnere mich nicht mehr genau. Jedenfalls aber kannte ich mich voll aus mit der Liebe und Horvath und brachte eine komplette Enzyklopädie zu Papier (ja, damals schrieb man tatsächlich noch auf Papier). Ich war voll mit mir zufrieden. 

Und dann bei der Besprechung: „Um Gottes Willen, Sie kamen ja aus dem Schreiben gar nicht mehr heraus!“ 

Das war das gesamte Feedback für meine Mühen. Und es war nicht positiv gemeint.

Deshalb habe ich am ersten Tag des CAS eine ganze Packung Munz Caramel weiss in mich hineingestopft (die Vorteile am Online-Unterricht und an einer ausschaltbaren Kamera). Aus Frust und aus Schiss. Wegen meines Wissenschafts-Traumas.

Aber Ängsten soll man/frau/* sich ja bekanntlich stellen.

(Muss ich mir das echt noch antun mit über 40?)

… 

(Kann ich wirklich so wenig, dass ich das Gegenteil mit NOCH einem Fackel beweisen muss?) 

… 

(Oder bin ich einfach nur faul?)

Ich werde schauen, ob sich diese Fragestellungen irgendwie wissenschaftlich verwerten lassen, HAHA!!!

 

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