Samstag, 8. Oktober 2016

58 Die Gretchenfrage

Neulich hat mir am frühen Morgen am Hauptbahnhof Zürich ein älterer Herr eine Bibel in die Hand gedrückt.
Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich gebe zu, hätte ich wohl gesehen, was er da verteilte, hätte ich wohl nicht so bereitwillig meinen Arm ausgestreckt und höflich "Danke!" gesagt. Naja, ich hab ja schliesslich schon eine Bibel zu Hause, nämlich - und nicht mal die hab ich wirklich gelesen.
Ich hab's nunmal nicht so mit der Religion, um hier gleich mal die Gretchenfrage zu beantworten.
Und auch nicht mehr so mit traditionellen papierenen Büchern, bin ich doch letztes Jahr auf den Kindle umgestiegen.

Trotzdem hab ich die kleine Bibel mitgenommen.
Weil der Verteiler einfach so wahnsinnig sympathisch war. "Au für die jungi Dame han ich no öppis!", sagte er strahlend und lachte mich dabei so freundlich und ehrlich an, dass mein Hirn grad vollkommen betört war, wahrscheinlich gleich sämtliche Glücks- und Bindungshormone in meinem Körper ausschüttete und auf diese Weise den Befehl an meinen Arm aussandte, sich auszustrecken und an meine Hand zuzugreifen. Es faszinierte mich einfach, wie jemand schon zu so einer wahrlich unchristlichen Zeit, ohne Sonnenlicht, dazu beim ersten Kälteeinbruch nach dem Sommer, bei dem sowieso alle lieber im Bett geblieben wären und die Mundwinkel deshalb überall noch ein bisschen mehr nach unten zeigten als sonst schon üblich und die abweisenden Gesten wahrscheinlich auch noch ein bisschen harscher ausfielen als an einem wunderschönen, warmen Frühlingsmorgen - also eben, dass jemand trotz sooo widriger Umstände sooo wahnsinnig gute Laune haben konnte und sich traute, am HB zu STOSSZEITEN so ganz selbstverständlich den vorbeieilenden supergestressten Pendlern ein doch nicht wenig unumstrittenes Buch in die Hand zu drücken als wäre es Gratis-Schokolade!

Das verdient einfach REEEESPECT, finde ich! 
(genauso wie dieser lange Satz vorhin, ich denke, ich habe gerade einen persönlichen Rekord aufgestellt, bitte Goldmedaille an mich - danke!)


Ja, und darum hab ich die Bibel auch nicht einfach irgendwo liegen gelassen, wie ich das sonst für gewöhnlich mit dem Wachtturm, der Scientology-Broschüre, dem Party-Flyer und der Wahlpropaganda mache. Nein, ich habe sie sogar immer noch, die kleine Hosensack-Bibel. Sie steht jetzt in meinem Büro und wurde wahrscheinlich schon vom dem einen oder anderen Arbeitsgspändli durchgeblättert.
Von mir zwar nicht, muss ich gestehen. Eben, ich hab's nicht so mit der Religion.
Aber der charismatische Verteiler mit den hehren Absichten hat trotzdem erreicht, was er wollte: Dass es mir ein bisschen besser geht. Geht es mir nämlich, irgendwie. Nicht, weil ich jetzt zu Gott gefunden hätte.

Weil dieser ältere Herr am Battlefield HB Zürich so erfrischend offen und entspannt dem Heer der griesgrämigen Pappkaffeebecherhalter und gestressten Handykucker getrotzt hatte.
Weil er sich nicht von diesem Miese-Laune-Mainstream hatte mitreissen lassen, der sich dort jeden Morgen in Richtung Zug oder Büro ergoss. Weil er mich, wenn auch nur eine kurze Sekunde lang, wie ein Leuchtturm aus der stürmischen, schwarzen See ans ruhige und friedliche Ufer gewiesen hatte, bevor mich erneut eine Welle erfasst und weitertrieb.

Und ja, weil er mich "junge Dame" genannt hatte. 


Donnerstag, 15. September 2016

57 Mein Leben auf grossem Fuss

Ich geb's auf.
Das mit den hohen Schuhen, mein ich.
Ich kann's einfach nicht.

Sieht zwar schon sehr schön aus, so mit Absätzen, macht die Beine länger, den Gang graziler - also, naja, im Normalfall. Bei mir eben nicht.
Ich ziehe mir hohe Hacken an - und nach maximal fünf Minuten sterbe ich schon vor Schmerzen. Die Füsse zwei feuerrote, geschwollene Fleischklumpen, Fersen und Sohlen voller Blasen, die Waden krampfig, aus dem stolzen, schwungvollen Modelschritt ist ein peinliches, x-beiniges Stolpern geworden. 


Gestern hab ich's wieder mal probiert, nach längerer Absenz. Füsse nach dem letzten Versuch verheilt (das war irgendwann im Winter in der Disco, zwei Stunden hielt ich durch, Rekord, den Rest der Nacht tanzte ich auf Socken durch, die hohen Stiefeletten als modisches Accessoire in der Hand, in die Handtasche passten sie ja nicht), wieder neuen Mut gefasst. Man könnte es also wieder mal wagen, dachte ich mir, den Tag zu einem besonderen machen. Zum gemütlichen Stadtbummel also die schönen, roten Peeptoes angezogen mit 7cm-Absatz - hey, ganze 7cm! Das ist doch nicht der verdammte Eiffelturm!!
Nach fünf Minuten fühlte ich mich aber schon so, als hätte ich eben diesen dreiundzwanzig Mal hintereinander zu Fuss bestiegen. 
In meinen Peeptoes.
Erschwerend kam dazu, dass ich natürlich vergessen hatte, dass im Niederdorf Pflastersteine liegen. Nach jedem zehnten blieb ich mit einem meiner Absätze stecken.  Oder gleich mit beiden. 
Sie sahen bald nicht mehr so hübsch aus. Meine Füsse auch nicht. Von meinem Gang möchte ich gar nicht erst reden.

Also, was war die logische Folge? Wie immer? 
Genau, in den nächsten Schuhladen rein und ein paar bequeme, flache Sandalen gekauft.
Ich weiss nicht, das wievielte Paar Schuhe das ist, dass ich mir aus solch einer Notlage heraus besorgen musste. Wie viel Geld ich schon ausgegeben habe für Schuhwerk, das ich eigentlich gar nicht brauchte. 
Und das willll was heissen, wenn ich als FRAU so was sage. 
Es scheint wirklich so, als seien meine Füsse allergisch auf alles, was sie irgendwie ein bisschen auf die Zehenspitzen zwingt.
Aber wie machen das meine Freundinnen nur, die jeden Tag hohe Hacken tragen?? Und zwar nicht die Weichspül-Variante von sieben Zentimeterchen, sondern turmhohe, nadeldünne Stelzen?? Ohne eine Miene zu verziehen?? Zwölf Stunden am Stück?? 
Ich bin neidisch, wirklich.

Aber wahrscheinlich hat mich GottAllahJehovadieNaturdasSchicksal auch nicht ohne Grund auf fast 1 Meter 80 wachsen lassen, ganz ohne Schuhe. Und mich mit Riesenlatschen "beschenkt", für die man ohnehin kaum filigrane Pumps oder Stilettos findet.
Künstliche Vergrösserung funktioniert bei mir einfach nicht.

Mittwoch, 24. August 2016

56 Was bleibt

Es ist schon krass, wenn man drüber nachdenkt: ich bin jetzt seit fast vier Jahrzehnten auf dieser Welt, das ist ja nicht grad ein Holozän oder so - aber hey, wieviele Wandel ich in dieser Zeit schon durchlaufen bin! Was sich alles verändert hat seit meiner Geburt - Wahnsinn!

Ich meine, ich hab diese Fotos, ich als Kleinkind, ich kann kaum stehen, hab aber stolz den Hörer unseres Telefons am Ohr, natürlich Festnetz, grau, mit geringeltem Kabel und einer riesigen Wählscheibe aus Plastik.  
Heute geh ich mit meinem iPhone überall auf der Welt ins Internet.

Wenn ich in den Bus stieg, dann schob ich zuerst so eine Mehrfahrtenkarte aus Karton in einen Schlitz und spürte, wie im Innern ein weiteres Eckchen an ihr abgehackt wurde. 
Heute hab ich eine kleine Plastikkarte für sämtliche Transportmittel, und der Kontrolleur hält sie einfach an einen Leser.


Übrigens kostete eine Busse bei Schwarzfahren in meinen jungen Jahren noch 20 Stutz, heute 100...


Wenn es bei mir zu Hause mal Fertig-Pizza gab, war das ein Festtag! Heute kann ich alles fix und fertig haben, Salat muss ich nicht mehr selber waschen, Karotten nicht mehr selber schneiden, das Sandwich nicht mehr selber belegen, ich kaufe Sushi im Coop und Tacos und Paneer, die Generation vor mir wusste in meinem Alter nicht mal, was das ist, und ich kann nicht nur Cola light trinken, sondern auch Cola light koffeinfrei, Cola Zero und Cola Life.
Überhaupt komm ich heute an jeder Ecke an Essen und Trinken, überall Take-aways und Brezelkönige und Spettacolinos, früher gab's Lebensmittel nur im Supermarkt, in den man erst noch weit fahren musste,  oder im Restaurant.
Und für das Mittagessen nahm ich immer brav mein Tupperware oder mein Käsebrot in die Schule mit, heute gehen die Kids zu McDonalds.

Flugtickets zahlte man im Reisebüro, und dann kamen sie per Post, riesige Wedel aus Papier. Heute zeigt man man am Check-in einfach bequem sein Smartphone.

Kleider und Schuhe gab es nur im Laden zu kaufen. Heute im Internet.

Früher trug man Brille. Heute geht man Lasern.

Früher rauchte man überall. Heute gar nicht mehr.

Früher heiratete man mit Anfang 20. Heute geht man auf Tinder bis zum Tod.

So vieles hat sich verändert in den paar Jahren, in denen ich die Erde bereits beglücke. Es geht rasend schnell, man kommt ja kaum mit!

Aber es gibt eine Sache, die war schon immer gleich und wird es auch bleiben. Früher, heute, in Zukunft. Ob als Kindergärtnerin oder mit fast 40 jetzt. Egal, wie fortschrittlich die Technik und Wissenschaft auch sind. Etwas wird sich niemals ändern:

Mein Mami, das mir aus dem Küchenfenster nachwinkt, wenn ich aus ihrem Haus gehe. 

I like.