Mittwoch, 19. Oktober 2016

59 Die Nacht der Helden

Es ist nach 1 Uhr morgens. 
Draussen ist es stockdunkel und mucksmäuschenstill (also, so still, wie es im Kreis 4 halt sein kann), ich liege friedlich im Bett. 
Nicht alleine. Zum Glück. 
Nein, nicht, was ihr wieder denkt! 
Ok, doch, das auch, aber das tut jetzt nichts zur Sache! Wir nennen ihn Held, einverstanden? Er wird noch wichtig in dieser Geschichte, ihr werdet sehen! Denn plötzlich rumpelt es in der Wohnung. 

Mein Held schreckt auf. Ich winke ab, die Augen immer noch geschlossen: "Der scheiss Güselsack in der Küche ist wieder mal umgefallen. Macht immer einen hueren Krach."
Es rumpelt weiter. Und weiter. Ziemlich laut.
Ziemlich viel Güsel, denke ich. Was hab ich weggeworfen? Kanonenkugeln? Kann doch nicht sein...
"Hast du das Fenster im Bad wieder gekippt?", fragt mich mein Held plötzlich. 
"Ähm... also... joaah...?"
Ich möchte hier noch anfügen, dass ich im Hochparterre wohne. Im Kreis 4. 
Wir hören, wie etwas in die Badewanne plumpst. Oder springt. Dann spüre ich, wie etwas Kaltes von meinem Magen aufsteigt in Richtung Haarwurzeln, das Blut rauscht in meinen Ohren, es schüttelt mich innerlich, aber äusserlich bin ich wie gelähmt.
"Ruf die Polizei!!" Mein Held schlägt die Bettdecke zurück und geht langsam in Richtung Türe, aus dem Schlafzimmer hinaus in den Korridor.
Ich schaffe es hingegen gerade mal so halb, nach meinem Handy auf dem Nachttischchen zu greifen. Scheisse, wie ging die Nummer der Polizei noch mal?? Und was genau soll ich denen dann sagen?? "Grüezi, bei mir steht irgendein Fremder in der Wohnung, was soll ich jetzt machen? Können Sie kommen? So in 5 SEKUNDEN? Denn so lange braucht der ungefähr vom Bad ins Schlafzimmer!"
Die Gedanken rasen in meinem Kopf, während ich immer noch aufrecht und steif wie eine Schaufensterpuppe auf dem Bett sitze.
Soll ich einfach davonrennen? Bin ich schneller als der an der Haustüre? Schreien oder nicht schreien, was schreckt ihn mehr ab? Will er mein Geld oder will er mich? Uns? Oder vielleicht besser gleich durchs Fenster? Shit, aber ich trage keine Kleider! Das geht nicht, da erfrier ich ja! Was ist mir denn lieber: Von dem vergewaltigt und erstochen werden oder den Kältetod sterben? Oder  überleben, aber alle meine Habseligkeiten verlieren (scheisse, mein Laptop!! Hab ich meine Daten eigentlich alle in die Cloud geladen??)? Was tut denn am wenigsten weh?? 
Und wenn er auf meinen Helden losgeht? Was mach ich dann? Um Hilfe schreien? Ihn opfern, um selber zu überleben??

So viele Gedanken, gedacht in rund 1,3591 Sekunden.
Dann hören wir, wie es nochmals rumpelt, der Eindringling hat uns offenbar gehört und Schiss gekriegt - der Rest ist Schweigen.


Wie zwei Ölgötzen stehen wir vor dem offenen Badezimmerfenster. Der Möchtegern-Einbrecher hatte den gekippten Flügel einfach aufgewuchtet. An der gekachelten Wand darunter und in der Badewanne klaffen überall braune Flecken, wahrscheinlich von dreckigen Fingern und Schuhsohlen. Mein Duschgel, mein Conditioner und meine Bade-Essenz ("Glückliche Auszeit") liegen verstreut im Raum.
Mein teures Argan-Öl-Shampoo ist weg. 

Ich will unbedingt grad sofort umziehen! Ich fühle mich in meinen eigenen vier Wänden nicht mehr sicher! Erst klaut man mir meinen Schnauz vor der Tür (Blog Nummer 52), und jetzt reicht einem das offenbar schon nicht mehr und man legt sich uneingeladen nächtens in meine Badewanne, wundert sich dann, dass man dabei gestört wird und verschwindet mit meiner teuren Haarpflege! 
In was für einer Welt leben wir eigentlich??!!
Und überhaupt: was wäre passiert, wenn ich ALLEINE gewesen wäre in dieser Nacht? Nicht auszudenken!! Also, ICH hätte mich dem Eindringling ganz bestimmt nicht so mutig entgegengestellt! Im besten Fall hätte mich sofort ein Herzinfarkt dahingerafft, während ich mich an meinem Bett krampfhaft an die Decke geklammert und mit riesigen Augen in Richtung Türe gestarrt hätte wie so ein überdimensioniertes Maki (aber weit weniger süss)! Oder noch schlimmer: was, wenn ich GAR NICHT zu  Hause gewesen und am Morgen in eine ausgeräumte Wohnung getreten wäre...

Zum Glück hält diese hysterische Phase nur kurz an. Mein Held bugsiert mich tröstend zurück ins warme Bett (und er hätte eigentlich mehr Grund zum Heulen gehabt, schliesslich hätte er beinahe sein Leben für mich gegeben - was mir übrigens ziemlich schmeichelt, muss ich zugeben...),  wir kucken zusammen eine Folge Little Britain auf dem ipad - und schon schlafe ich selig ein.

Am nächsten Morgen geht's mir dann schon wieder gut. Und auch mein Badezimmerfenster ist wohlauf. "Nichts kaputt", versichert mir jedenfalls der Hauswart. Aber putzen könne ich es gefälligst mal. Logo, durch saubere Fenster steigt ja niemand ein. Macht Sinn.  
Aber es kommt noch besser: als ich aus dem Haus gehe, finde ich meine vermisste Flasche Argan-Öl-Shampoo fein säuberlich auf dem Briefkasten drapiert vor.

Meine Welt ist wieder in Ordnung.
Aber gekippte Fenster im Hochparterre kommen darin nicht mehr vor.

Samstag, 8. Oktober 2016

58 Die Gretchenfrage

Neulich hat mir am frühen Morgen am Hauptbahnhof Zürich ein älterer Herr eine Bibel in die Hand gedrückt.
Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich gebe zu, hätte ich wohl gesehen, was er da verteilte, hätte ich wohl nicht so bereitwillig meinen Arm ausgestreckt und höflich "Danke!" gesagt. Naja, ich hab ja schliesslich schon eine Bibel zu Hause, nämlich - und nicht mal die hab ich wirklich gelesen.
Ich hab's nunmal nicht so mit der Religion, um hier gleich mal die Gretchenfrage zu beantworten.
Und auch nicht mehr so mit traditionellen papierenen Büchern, bin ich doch letztes Jahr auf den Kindle umgestiegen.

Trotzdem hab ich die kleine Bibel mitgenommen.
Weil der Verteiler einfach so wahnsinnig sympathisch war. "Au für die jungi Dame han ich no öppis!", sagte er strahlend und lachte mich dabei so freundlich und ehrlich an, dass mein Hirn grad vollkommen betört war, wahrscheinlich gleich sämtliche Glücks- und Bindungshormone in meinem Körper ausschüttete und auf diese Weise den Befehl an meinen Arm aussandte, sich auszustrecken und an meine Hand zuzugreifen. Es faszinierte mich einfach, wie jemand schon zu so einer wahrlich unchristlichen Zeit, ohne Sonnenlicht, dazu beim ersten Kälteeinbruch nach dem Sommer, bei dem sowieso alle lieber im Bett geblieben wären und die Mundwinkel deshalb überall noch ein bisschen mehr nach unten zeigten als sonst schon üblich und die abweisenden Gesten wahrscheinlich auch noch ein bisschen harscher ausfielen als an einem wunderschönen, warmen Frühlingsmorgen - also eben, dass jemand trotz sooo widriger Umstände sooo wahnsinnig gute Laune haben konnte und sich traute, am HB zu STOSSZEITEN so ganz selbstverständlich den vorbeieilenden supergestressten Pendlern ein doch nicht wenig unumstrittenes Buch in die Hand zu drücken als wäre es Gratis-Schokolade!

Das verdient einfach REEEESPECT, finde ich! 
(genauso wie dieser lange Satz vorhin, ich denke, ich habe gerade einen persönlichen Rekord aufgestellt, bitte Goldmedaille an mich - danke!)


Ja, und darum hab ich die Bibel auch nicht einfach irgendwo liegen gelassen, wie ich das sonst für gewöhnlich mit dem Wachtturm, der Scientology-Broschüre, dem Party-Flyer und der Wahlpropaganda mache. Nein, ich habe sie sogar immer noch, die kleine Hosensack-Bibel. Sie steht jetzt in meinem Büro und wurde wahrscheinlich schon vom dem einen oder anderen Arbeitsgspändli durchgeblättert.
Von mir zwar nicht, muss ich gestehen. Eben, ich hab's nicht so mit der Religion.
Aber der charismatische Verteiler mit den hehren Absichten hat trotzdem erreicht, was er wollte: Dass es mir ein bisschen besser geht. Geht es mir nämlich, irgendwie. Nicht, weil ich jetzt zu Gott gefunden hätte.

Weil dieser ältere Herr am Battlefield HB Zürich so erfrischend offen und entspannt dem Heer der griesgrämigen Pappkaffeebecherhalter und gestressten Handykucker getrotzt hatte.
Weil er sich nicht von diesem Miese-Laune-Mainstream hatte mitreissen lassen, der sich dort jeden Morgen in Richtung Zug oder Büro ergoss. Weil er mich, wenn auch nur eine kurze Sekunde lang, wie ein Leuchtturm aus der stürmischen, schwarzen See ans ruhige und friedliche Ufer gewiesen hatte, bevor mich erneut eine Welle erfasst und weitertrieb.

Und ja, weil er mich "junge Dame" genannt hatte.