Samstag, 31. Mai 2014

2 Immer mitten in die Fresse rein

Das Leben überrascht mich doch immer wieder. Ich meine, das reale. Ab und zu poppt es nämlich im virtuellen auf, so wie ein unerwünschtes Werbefenster auf einer Internetseite, und reisst uns aus unserer Social media-Lethargie. Ich meine, wenn man sich so auf Facebook, Twitter, Instagram und Co. tummelt (und ich habe das Gefühl, einige tummeln sich dort intensiver als im richtigen Leben), dann kriegt man ja so ein gewisses Bild von der Welt um einen herum. Meistens ist das gaaaaaaaaanz doll und positiv, also, allen geht es supergut, sie sind mega glücklich, sie haben immer Ferien, total erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen und alle ihre Träume gehen immer in Erfüllung. Klar. Auch wenn man diese Leute dann mal live auf der Strasse trifft, dann halten sie den schönen Schein natürlich aufrecht: "Jaja, alles ok, mir geht's perfekt. Probleme? Langeweile? Ich doch nicht!"
Ähäää. Und dann kriegt man das total schlechte Gewissen, weil es einem selber natürlich nicht so gut geht - auch wenn man das weder im Internet noch im Smalltalk zugeben würde.

Da ist also zum Beispiel dieser Typ, nennen wir ihn Fredy. Ich kenne ihn nur sehr flüchtig, er ist kein Freund von mir, eben nur wieder so ein "Friend". Nach einem kurzen Kennenlernen im realen Leben vor ein paar Jahren kriege ich ihn jetzt praktisch nur noch über Facebook mit. Aber OH MY GOD! Er ist so ziemlich der bestaussehendste Mann der Stadt Zürich! Ehrlich jetzt. Er sieht grossartig aus, er spielt natürlich in einer Rockband, ist mega beliebt, hat zehntausende Freunde und Friends. Fredy ist einer dieser Männer, die auch mit Zigarette im Mundwinkel, ungewaschenen Haaren und nach fünf durchgefeierten Nächten noch umwerfend aussehen. Ja, er ist der Wahnsinn und weiss es natürlich auch. Deshalb bewegt er sich auch mit dieser unbeschwerten, sexy Nonchalance durchs Leben, die die Frauen wahnsinnig macht und die anderen Männer depressiv. Fredy könnte sie alle haben, und irgendwie haben wir wohl auch alle insgeheim gehofft, die Wahl werde auf uns fallen. Naja, irgendwann hat er sich offenbar für eine entschieden, denn plötzlich war Fredy auf Facebook Vater. Und wir gingen leer aus.

Scheisse!, dachte ich. Jetzt der auch noch! Was um Himmels Willen hat diese Frau, mit der Fredy ein Kind macht? Die er aus der Masse der Millionen Frauen auserkoren hat, seinen Samen zu empfangen? Sich für ewig an sich zu binden? Und warum verdammt nochmal bin diese Frau nicht ich?! Wieso falle ich in dieser Masse nicht auf? Wieso kriegen immer die anderen das Stück Drei-Königs-Kuchen mit dem Plastikfigürchen drin und nicht ich? Fredys Frau muss eine Prinzessin sein, ein Top-Model, eine wahnsinnig schöne Fee mit einer so tollen Aura, dass sie alle Menschen um sich herum in Null Komma nichts in ihren Bann zieht. Wieso ist mein Leben nicht so hollywood-perfekt, so magisch, so glücklich???
Ich war überzeugt, Fredy gehe jetzt auf einer rosa Wolke durchs Leben, und seine Kindsmutter natürlich auch.

Aber wie gesagt, manchmal holt einen die Realität eben plötzlich ein, unerwartet, aber nicht so unerwünscht wie eine saudoofe Pop-up-Werbung.  
Ich stehe also so in der Migros vor dem Käseregal. Und wer steht plötzlich neben mir? Ja, Fredy. Ewig lange nicht mehr gesehen. Also, ausserhalb von Facebook jedenfalls . Er ist immer noch cool und schön. Aber oh-oohh! Unter seinem Hemd wölbt sich jetzt tatsächlich ein kleines Bäuchlein. Ausserdem hat er tiefe Augenringe und wirkt sehr abgeschlagen. Die Jeans sitzt ihm irgendwie schlecht auf den Hüften. Diese sexy Energie, die ihn einst umgab, ist verschwunden. Liegt vielleicht auch am Käse. Aber Fredy interessiert sich gar nicht dafür, er ist nämlich pausenlos mit seinem Handy beschäftigt. 
Zwei Meter neben ihm steht eine junge Frau ebenfalls über ihr Smartphone gebeugt. Hübsch, aber jetzt nicht so WOW-DAS-MACHT-MICH-JETZT-GRAD-SUIZIDAL-hübsch. Nichts besonders. Kein Wesen von einem anderen Stern. Hinter ihr steht ein Kinderwagen, zwei kleine Beinchen im gestreiften Strampler gucken raus. Ich kombiniere: das ist Fredys Familie. Auch wenn es überhaupt nicht den Anschein macht. Keiner nimmt den anderen wahr. Es wird nicht miteinander gesprochen, sich nicht angeschaut, nur monoton auf die Handytastatur eingehämmert. 
Ich weiss nicht warum, aber ich fühle mich plötzlich ein bisschen unwohl. Ich schleiche mich darum rasch weg, bevor Fredy vielleicht noch einfallen könnte, dass ich ihm irgendwie bekannt vorkomme. Mein Herz klopft wie verrückt, wie immer, wenn ich ihn sehe. Aber das erste Mal nicht, weil ich ihn so geil finde. Denn diesmal tut mir sein Anblick fast etwas weh, aber gleichzeitig muss ich auch grinsen. Weil es doch so absurd ist! Ich meine, SCHEISSE!! Rocker-Fredy! DER Frauenschwarm-Fredy! MEIN Traum-Fredy! Nicht auf der Bühne vor dem Mikro! Nicht lässig mit dem Bier in der Hand vor irgendeinem Zürcher In-Club, umringt von unzähligen interessierten Damen! Nein, in der Migros! Vor dem Käseregal! Mit Frau und Kind! So unglamourös. So normal. Und er ist sichtlich abgekämpft und irgendwie - gelangweilt. Oder langweilig. 

Es ist doch so: manchmal muss einem die Realität eben mal wieder so richtig eins mitten in die Fresse hauen, damit man aus dieser geistigen Umnachtung aufwacht, die einem die mediale Welt gemischt mit der eigenen Züri-Tussi-Fantasie eingebrockt hat. Das wahre Leben bricht halt immer irgendwann durch die virtuelle Eierschale. So wie eine schöne, zarte Blume durch den harten Asphalt. 

Ich hoffe wirklich, Familie Fredy geht es gut. Aber ich glaube, mir geht's besser.



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